Von der Freundschaft mit der Angst

Über einen natürlichen Umgang mit unserem Bodyguard

Angst gehört – neben Wut und Lust – zu den Ur-Triebkräften des menschlichen Daseins. Ihre Aufgabe und ihr einziges Interesse ist es, unser physisches Überleben zu sichern. Ausgelöst wird sie, vom Stammhirn oder Reptilienhirn ausgehend dann, wenn dieses eine Situation als unsicher bis bedrohlich für uns einschätzt. Dies wird vor allem an der Blutzusammensetzung gemessen, und dringt oft nicht bis in unser Bewusstsein durch. Wir reagieren reflexartig, sind «getrieben». 

Das Reptilienhirn ist der älteste Teil des Gehirns. Es funktioniert noch genauso wie bei unseren Vorfahren in prähistorischen Zeiten. Es denkt also wie in der Steinzeit. Nur unsere Lebensumstände haben sich seither massiv verändert, die Biologie und Reaktionen des Stammhirns jedoch nicht. Es sind die Automatismen, die bei «Gefahr» ausgelöst werden, und auf die wir keinen direkten Einfluss haben. Im autonomen Nervensystem ist dann mittels Botenstoffen unser Sympathikus (fight / flight / freeze) oder dorsaler Vagus (freeze / Immobilität / Kollaps) innerviert. Glücklicherweise gibt es dennoch Methoden, mit welchen wir indirekten Einfluss nehmen können. Diese zeige ich in meinen Coachings und im Yoga. 

Beispiele moderner Gefahren und Auslöser von Stress heutzutage sind Krankheit, Verletzungen, Operationen (ich kann nicht gegen den Tiger kämpfen oder wegrennen), Trennung, Umzug, Streit mit der Familie oder den Nachbarn, Einsamkeit (Verlust des Rudels, geringe Überlebenschancen), Verlust der Arbeit (=kein Geld =kein Essen), um nur wenige Beispiele zu nennen. Es geht hier also um unsere absoluten Grundbedürfnisse von Nahrung und Sicherheit. 

Da in unseren Breitengraden heutzutage so gut wie jeder etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf hat, scheinen die Ängste häufig irrational, und doch fühlen sie sich erst mal sehr schlecht an. Ein anderes, recht typisches Beispiel einer irrationalen Angst ist die Spinnenphobie. Hier ist die Unterscheidung zwischen Auslöser und Ursache spannend. Die Spinne im Aussen ist immer (nur) Auslöser, Trigger. Die Ursache, also die Angst an sich, war schon vorher da (in mir). Das ist ähnlich wie bei Allergien. Das Allergen an sich ist nicht das "Problem", sondern meine übertriebene Reaktion darauf. So können Projektionen zurückgeholt werden, und ich kann bei mir schauen, warum ich so stark reagiere, worum es da eigentlich geht. 

Was wir als das unangenehme Gefühl der Angst interpretieren, ist eigentlich verdrängte Angst, etwa aus Scham, Angst vor der Angst oder Ablehnung von Gefühlen und Körper. Dies zeigt sich in den bekannten Gefühlen von Herzrasen, Enge in der Brust, Nervosität, Hypersensibilität, Unruhe, Panik, Schlaflosigkeit, auf Nadeln sitzen, ADHS etc. 

Angenommene Angst drückt sich in einer Empfindung von Raum, Wachheit, Klarheit, Lebenslust, erhöhtem Gewahrsein und Fokussierung aus, die wir wiederum gar nicht mehr als Angst interpretieren. Uns ist in solchen Momenten glasklar, was zu tun oder zu lassen ist, wo wir vorsichtig sein, uns wehren oder weggehen dürfen, wo unser Weg (nicht) durchgeht. Und wir sind dazu imstande zu handeln, wenn nötig. 

Die Angst als Überlebenstrieb (im Yoga: das klesha abhinivesha) abzulehnen, ist wie gegen den eigenen Körper, die Biologie oder Materie anzukämpfen. Das würde der Angst auch nicht gefallen, denn wie gesagt ist sie ja einfach nur daran interessiert, uns physisch am Leben zu halten. Ihre Strategie ist dann die Übertreibung, damit wir wach und aufmerksam werden. Sie macht dann eine Situation grösser, als sie ist. 

Es ist wie bei (kleinen) Kindern oder Babys, die wenn sie nicht beachtet werden, oft erstmal einfach lauter und «lästiger» werden. Sie brauchen Anerkennung, würdevolle Begegnung, Co-Regulierung und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse (um die sie sich noch nicht selbst kümmern können). «Nothing ever goes away until it teaches us what we need to know», sagt Pema Chödrön. Alles, was wir nicht anschauen wollen, klopft nur noch lauter an unsere Tür. Lassen wir es ein, geht es im eigenen Rhythmus von selber wieder. 

Oft wird Vertrauen oder Liebe als Gegenteil der Angst verstanden, etwa «Wenn du in der Liebe bist, gibt es keine Angst mehr» oder «Ich habe keine Angst, ich vertraue». Ich verstehe es einfach so, dass Angst und Liebe verschiedene Ebenen unseres vieldimensionalen Seins ausmachen, und sich dabei nicht ausschliessen. Wir sind Körper, wir sind Geist, und wir sind reines Bewusstsein - human beings. In der Biologie des Reptilienhirns spielt Liebe keine Rolle. Romantik und Spiritualität werden heruntergebrochen auf das nackte Überleben. Wir können aber im reinen Bewusstsein der Liebe mit unserer Angst im Frieden sein. Wir können die Angst lieben. Sie ist so menschlich. Selbst die Yogis sagen, der Überlebenstrieb kann nicht wirklich «überwunden» werden. 

Grundlage dieses Textes ist, was ich am eigenen Leibe erfahre, bei Anouk Claes über das Reptilienhirn und in der Psychotraumatologie sowie bei Stéphanie Maurer über das Nervensystem gelernt habe. Es deckt sich. Anouk bringt ein so simples wie treffliches Beispiel: Wenn ich fliege, möchte ich nicht, dass der Pilot keine Angst hat und die Signale im Cockpit ignoriert, die ihn auf eine mögliche Gefahr oder einen Defekt hinweisen. Ich möchte, dass er wach und vorsichtig der Sache auf den Grund geht und handelt, und nicht in Liebe darauf vertraut, dass schon nichts passiert. 

Wenn ich meiner Angst ihren Platz gebe, erfüllt sie ihren Job, ohne dass ich mich von ihr dirigieren lasse oder überwältigt werde. Manchmal flüstert oder schreit sie mir zu: Tu das nicht! Es ist viel zu gefährlich!! Und ich höre, würdige es, mache aber doch. Und sie beruhigt sich insofern, dass sich mein Tunnelblick weitet und ich Dinge wieder in einem anderen, grösseren Zusammenhang anschauen kann. Ich sehe Lösungswege und erinnere Erfahrungen, wie ich in anderen Situationen mit ähnlichen Schwierigkeiten positiv umgehen konnte (und überlebt habe), oder kann mir Hilfe holen und die herausfordernde Erfahrung integrieren. Mein Verhalten ist nicht mehr triebhaft und irrational. Das soziale Nervensystem (mit dem ventralen Vagus oder Selbstheilungsnerv), mit dem wir Säugetiere uns vom Reptiliendasein weiterentwickelt haben, ist wieder mit an Board und am Steuer, und ich kann über  mich hinaus wachsen. 

Meinen Bodyguard möchte ich auf keinen Fall loswerden, und lade die Angst in meinen inneren Kreis ein! Liebe Angst, ich sehe dich und höre dich! Danke, dass du immer so gut auf mich aufpasst.

© Therese im Januar 2022

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